Das Mitmachmärchen

Das Mitmachmärchen
 
 
… packte seine Sachen und die wenigen Einnahmen in ein Bündel und ging nach Hause. Dort erzählte es seinem Großvater was vorgefallen war und wie es das schönste Stück, die Rose, verschenkt hatte.
 
Die Königin aber zog auf ihr Schloss, zeigte dem Prinzen die Rose und erzählte ihm von dem schönen Mädchen. Der Prinz war von der Schönheit der Rose und der Großzügigkeit des Mädchens beeindruckt. Er dachte an all die Städte, die er im Land besucht hatte, in denen ihm solches nicht widerfahren war, an all die Prinzessinnen dort voll Stolz und Eitelkeit. Die Schönheit des kleinen Geschenkes berührte ihn tief.
 
Wie ihm von der Königin befohlen war, kam das Mädchen am darauf folgenden Tag ins Rosengärtchen beim Schloss. Der Königssohn beobachte insgeheim das Mädchen mit seiner Mutter. Und wie am Tag zuvor, als er die Rose sah, stieg ihm beim Anblick des Mädchens eine nie gekannte Freude auf. Er beschloss, das Mädchen auf die Probe zu stellen, verkleidete sich am nächsten Tag als Kaufmann mit langem Bart und ging auf den Markt. Das Mädchen bot wieder die Edelholzfiguren an. Er verstrickte es in ein Gespräch. „Er sei von weit hergekommen“, sagte er „weil er hörte, dass der Königssohn eine Gemahlin suche. Er solle für diesen einen Wettbewerb ausschreiben. Nur dasjenige Mädchen, dass sieben Rätsel lösen könne, solle wert sein, seine Gemahlin zu werden.
 
„Was sind das für Rätsel?“ fragte das Mädchen. Bereitwillig erzählte der verkleidete Prinz seine Rätsel. Das erste Rätsel sei: „Wo wird geknickt, was man nicht knicken kann?“ Das zweite Rätsel lautete: „Wo kann man vieles erleben, obwohl es nichts zu sehen gibt? Angesichts der ersten beiden Fragen schaute das Mädchen verwirrt. Der vermeintliche Kaufmann fuhr fort: „Wo kann man etwas halten, was man gar nicht verloren hat? Wo ist ein Stuhl, der keiner ist? Wo werden Menschen groß und klein? Wo kann man Farben sehen, die es gar nicht gibt?“ Und schließlich: „Wo bekommt man den langen Bart seines Gegenüber?“
 
Inzwischen war das Mädchen durch die vielen Fragen sehr verunsichert. Aber es ließ sich nichts anmerken. Der „Kaufmann“ verabschiedete sich und zog von dannen. Nicht ohne, dass er bemerkte, wie sehr jetzt schon die Rätsel das Mädchen beschäftigten.
 
Am nächsten Tag ging das Mädchen wieder in die Stadt und wurde traurig, weil es nicht die entfernteste Ahnung hatte, wie die Rätsel gelöst werden könnten. Da kamen ihr zwei kleine Hunde entgegen, die sich miteinander unterhielten. „Wo kommt ihr her, dass ihr sprechen könnt?“, fragte das Mädchen. „Aus dem Märchenland.“, antworteten die beiden. „Wir sind Max & Moritz. Warum bist du so traurig?“ fragte Max. Da erzählte sie den beiden Hunden, was ihr tags zuvor geschehen war. Danach setzten sie zu dritt ihren Weg fort.
 
Als sie zu einem großen Einkaufstempel kamen, sagte Moritz: „Schau, auf der anderen Straßenseite spielen zwei Kinder an einer großen Rakete.“ Sie überquerten eine breite Straße. „Schau, da ist ein Lichtschlauch, der geknickt ist.“, sagte Moritz. „Aber Licht lässt sich nicht knicken.“, erwiderte Max und da hatten sie die Lösung des ersten Rätsels.
 
Sie zogen weiter und nach einer langen Wegstrecke kamen sie zu einem sonderbaren Kaufhaus. „Ein Kaufhaus, in dem es nichts zu kaufen gibt“, las Moritz vor. „Sonderbar!“ Dort standen zwei Kinder, die sich nicht trauten hineinzugehen. Moritz raunte: “Führe du sie hinein. Das Mädchen ging auf die beiden zu und gemeinsam nahmen sie an einer Führung durch das Dunkelkaufhaus teil. Alles war pechschwarz, aber da gab es ganz viel zu Riechen, zu Tasten, zu Spielen und zu Schmecken. Nach einer Stunde hatten sie viel erlebt. „Kinder“, rief das Mädchen, „das ist die Lösung des zweiten Rätsels.“ „Wir haben nichts gesehen, aber viel erlebt.“ Da schöpfte sie Mut, dass sie vielleicht doch alle Rätsel lösen könnte.
 
Inzwischen hatte sich schon eine ganze Schar von Kindern um das Mädchen und Max und Moritz zusammen gefunden. Sie zogen zu einem Fluss. Plötzlich versperrte ihnen eine große Röhre den Weg, die aussah, als ob sie gerade aus dem Feuer käme. Die Röhre drehte sich. Das Mädchen und die Schar der Kinder gingen durch die sich drehende Röhre. Obwohl sie auf einem festen und unbeweglichen Weg gingen, hatten sie den Eindruck, als ob sie das Gleichgewicht verlieren würden. Halten, was man nicht verloren hatte, erinnerte sich das Mädchen, war die dritte Frage. Sie hatte gemeint, sie würde das Gleichgewicht verlieren, was aber nicht passierte. Das war offensichtlich die Antwort auf das dritte Rätsel.
 
Die Schar zog weiter und kam erneut zu einer Rakete. Da konnte man Dinge in eine Lade schieben, die dann größer wurden. Aber das ging nur bei Gegenständen und nicht bei Menschen. Das Rätsel lautete aber: „Wo werden Menschen groß und klein?“ – Das konnte es nicht sein. Da wurde das Mädchen wieder mutloser. Die Schar überquerte den Fluss.
 
Dort entdeckten sie zwei sonderbare rote Teile. Ein Teil sah aus wie die Sitzfläche und eine Stuhlrückenlehne für Riesen. Und das andere Teil war viel kleiner und bestand nur aus Stuhlbeinen. Beides stand mehrere Meter auseinander und passte überhaupt nicht zueinander. Eins der Kinder war vorgelaufen und sah durch ein Guckloch, welches wiederum mehrer Meter entfernt war. Laut rief es „Schaut! Das ist ein Stuhl!“. Das Mädchen lächelte. Offensichtlich fügten sich die nicht zueinander passenden Teile durch das Guckloch zu einem Stuhl zusammen. Das war die Lösung des vierten Rätsels.
 
Ein Junge rief: „Lasst uns dahinten schauen, da ist ein orangenes Haus, das schief ist.“ Die Schar rannte los. Zwei Kinder hüpften ins Haus. Die anderen schauten durch ein kleines Fenster. Und da sahen sie: der eine Junge in der linken Ecke wurde ganz klein und der andere, in der rechten Ecke, ganz groß. Und wenn die Jungs tauschten, war es umgekehrt. Dies war die Lösung des fünften Rätsels.
 
Danach kamen sie in den alten Teil der Stadt. Da war eine große weiße Fläche. Gegenüber waren zwei Laternen. Die eine Laterne hatte weißes Licht, die andere rotes Licht. Als sich das Mädchen gegenüber den Laternen vor der weißen Wand aufstellte, rief eines der Kinder: „Schau da, du wirfst einen grünen Schatten, obwohl es keine grüne Laterne gibt!“ Da war sie, die Farbe, die es gar nicht gab. Die Lösung des sechsten Rätsels.
 
„Aber wie bekomme ich einen Bart?“ fragte sich das Mädchen. Mädchen haben keine Bärte. Und als sie so weitergingen, kamen sie an einen sonderbaren Spiegel. Das war eigentlich gar kein großer Spiegel, sondern es waren nur viele Spiegelstreifen. Das Mädchen stellte sich auf die eine Seite der Spiegelstreifen und blickte verzweifelt auf den Boden. Unbemerkt hatte sich der verkleidete Prinz, welcher der Schar die ganze Zeit gefolgt war, auf die andere Seite des Spiegels gestellt. Er sprach das Mädchen an und da sah sie es. Im Spiegel hatte sie die Augen und den Bart des „Kaufmanns“, der ihr gegenüber stand. Das war also die Lösung des siebten Rätsels.
 
Jetzt war sich der verkleidete Prinz ganz sicher, dass dieses Mädchen die zukünftige Königin sein sollte und beschloss sie zu heiraten. Er riss seinen Bart und seine Verkleidung ab und sprach: “Ich bin kein Kaufmann sondern der Prinz und ich bitte dich, meine Gemahlin zu werden.“
 
Das Mädchen war zuerst von der Verwandlung des Kaufmannes überrascht, aber dann ging ein Strahlen über ihr Gesicht. Max & Moritz begleiteten das Mädchen und den Prinzen zum Schloss, wo sie freudig von der Königin und vom König empfangen wurden. Man ließ den Großvater des Mädchens holen und alle Menschen in der Stadt feierten ein großes Hochzeitsfest. Gäste aus allen Städten, die der Prinz besucht hatte, kamen und staunten über das Glück von Wetzlar. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
 
Auch du kannst die Rätsel lösen. Du musst dich nur auf den Weg nach Wetzlar machen!